Newsnational Mittwoch, 26.06.2019 |  Drucken

Rechtsextreme Gewalt nimmt dramatische zu

Innenminister Seehofer appelliert: Verstärkter Bekämpfung des Rechtsextremismus, soeziell die Gewaltbereiten - Verfassungsschutz warnt eindringlich, auch die Kirchen, die mit Arbeitshilfen auffarten - Eindringliche Appelle vom Bundesdespräsident und den Spitzen des Staates

Berlin (KNA) Die Sicherheitsbehörden haben im vergangenen Jahr eine Zunahme rechter Gewalt in Deutschland registriert. Nach Informationen der "Bild am Sonntag" waren laut dem Jahresbericht 2018 des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) 24.100 Personen als rechtsextrem eingestuft - 100 mehr als im Vorjahr. Der Bericht wird am Donnerstag veröffentlicht.

Demnach gehören zu den Feindbildern der als rechtsextrem registrierten Personen "Ausländer", insbesondere Asylsuchende und Muslime, aber auch Politiker. Inhaltlich stehen den Angaben zufolge die Themen "Überfremdung" und ein vermeintlicher drohender Verlust der "nationalen Identität" im Fokus. Fast jeder zweite Rechtsextreme, rund 12.700 Personen, wird vom Verfassungsschutz als "gewaltorientiert" eingestuft. Zum Vergleich: Bei den Linksextremisten sind es rund 9.000.

Laut dem Bericht gab es im Jahr 2018 sechs versuchte Tötungsdelikte, die als "mutmaßlich rechtsextremistisch" eingestuft werden. Alle hatten einen fremdenfeindlichen Hintergrund. Die Zahl der rechtsextremen Gewalttaten stieg demnach auf 48 (2017: 28) - ein Plus von 71,4 Prozent.

Am Montag wies tagesschau.de darauf hin, dass diese Zahl der rechtsextremen Gewalttaten "um ein vielfaches höher" liege: Die Zahl der rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten lag 2017 bei 1.054; laut Bundeskriminalamt wurden 2018 allein im Themenfeld Hasskriminalität 871 rechte Gewalttaten registriert. "Mutmaßlich bezieht sich die Angabe der 'Bild am Sonntag' also auf antisemitische Gewalttaten von rechts, nicht auf alle rechten Gewalttaten insgesamt", so das Portal.

Sorgen machen den Sicherheitsbehörden die sogenannten Reichsbürger und Selbstverwalter. "Reichsbürger" lehnen die Bundesrepublik Deutschland ab und sind für die Fortexistenz des "Deutschen Reiches". Die "Selbstverwalter" erklären ausdrücklich ihren "Austritt" aus der Bundesrepublik. Der Verfassungsschutz stuft beide Gruppierungen als "staatsfeindlich" ein.

Bundesweit wachsen laut dem Bericht "Reichsbürger" und "Selbstverwalter": 2017 wurden für beide Gruppen insgesamt 16.500 Mitglieder registriert, 2018 stieg die Zahl auf 19.000 Personen, davon werden 950 auch als rechtsextrem eingestuft. "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" sind laut Verfassungsschutz waffenaffin. 910 besaßen 2018 Waffenscheine oder Waffenbesitzkarten. Sie fielen zudem durch zahlreiche Delikte auf: Beleidigung, Bedrohung, Urkundenfälschung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und illegaler Waffenbesitz.

Nach dem Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke rufen Politiker und Religionsvertreter zu mehr Einsatz gegen Rechts auf. Die umfassende Aufklärung des Verbrechens habe oberste Priorität, betonte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Sonntag laut Redemanuskript in Kassel. Wenn Repräsentanten der Demokratie angegriffen würden, "dann ist das ein Alarmzeichen für unsere Demokratie", mahnte Steinmeier.

Der Bundespräsident verwies auch auf "negative Beispiele aus unserer jüngeren Vergangenheit". Die Gefahr eines Rechtsterrorismus dürfe nie wieder unterschätzt werden. Steinmeier äußerte sich beim Empfang zum 100. Jubiläum des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge.

Außenminister Heiko Maas (SPD) erklärte, 80 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs würden Politiker wegen ihrer Überzeugungen wieder Opfer von Rechtsterroristen. "All das zeigt, wovor viele auch jetzt noch die Augen verschließen: Deutschland hat ein Terrorproblem", schreibt er in einem Gastbeitrag für die "BILD"-Zeitung (Samstag). Und weiter: "Vielleicht braucht unser Land nicht nur die 'Fridays for Future', die so viel in Bewegung gebracht haben. Sondern auch einen Donnerstag der Demokratie." Der Außenminister rief zudem dazu auf, auch im persönlichen Umfeld Stellung zu beziehen.

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) stellte den Rechtsextremismus "auf eine Stufe mit dem islamistischen Terror und mit der Gefahr durch Reichsbürger". Er kündigte im Gespräch mit den Zeitungen der "Funke Mediengruppe" an, die Arbeit der Sicherheitsbehörden zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und insbesondere der gewaltbereiten Personen und Netzwerke deutlich zu verstärken.

Seehofer rief zudem dazu auf, stärker gegen Hass und Hetze gerade im Netz vorzugehen. "Beleidigung, Verleumdung, Volksverhetzung gehören offline wie online verfolgt", betonte er. In Deutschland müsse gelten: "Null Toleranz für Ausländerhass, Hetze, Antisemitismus."

Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) bezeichnete den Mord an Lübcke als "Anschlag auf unsere Gesellschaft und unsere Demokratie". Politiker und Menschen, die sich öffentlich engagierten, dürften nicht "zu Freiwild werden", sagte sie der "Passauer Neuen Presse". Es müsse möglich sein, Argumente auszutauschen, ohne Hass, Hetze und "inszenierte Shitstorms", betonte Karliczek. "Und die eine Partei am rechten Rand muss endlich aufhören, die Grenzen zu verschieben, endlich diese doppeldeutigen Formulierungen unterlassen, wie etwa die Aussage, einen anderen Menschen zu jagen."

Das Internationale Auschwitz-Komitee erklärte, die jüdische Welt Europas sei "längst im Fokus dieses Hasses", dem auch Lübcke zum Opfer gefallen sei. "In diesen Tagen geht es wirklich um eine neue Qualität dieses Hasses und der rechtsextremen Gefahr in Deutschland", so der Exekutiv-Vizepräsident des Komitees, Christoph Heubner. Die AfD dürfe nicht "aus ihrer Verantwortung für den Aggressionsprozess in Deutschland entlassen werden", fügte er hinzu. Von allen Bürgern sei der unlängst von Seehofer angekündigte "Biss der Demokratie" zu erwarten, der allzu lange ausgeblieben sei.

Unterdessen zeigt sich die Die Bischofskonferenz sehr besorgt "über populistische Ansichten und Einstellungen mitten in unserer Kirche". Eine Arbeitshilfe mit vielen Praxisbeispielen soll Gemeinden beim kritischen Dialog unterstützen. In einem 74-seitige Text wendet sie sich besonders an Gemeinden und kirchliche Gruppen - aber nicht nur. Die Kirche trage "auch für jene, die mit rechtspopulistischen Tendenzen sympathisieren", eine seelsorgliche Verantwortung, betonte der für Migrationsfragen zuständige Hamburger Erzbischof Stefan Heße die Veröffentlichung: "Es ist uns ein Anliegen, ein Gesprächsangebot für alle Gläubigen zu formulieren - unabhängig von ihrer politischen Auffassung". Die Bischöfe warnten zugleich vor einer populistischen Instrumentalisierung des Christentums, etwa "wenn solche Bewegungen sich als Verteidiger des Abendlandes inszenieren und wesentliche Aspekte des Christlichen Menschenbildes ausblenden". Beim Verhältnis zur Religion wendet sich der Text gegen jede Form von Antisemitismus und Islamfeindlichkeit. Und beim Verständnis von Ehe und Familie konstatiert die Arbeitshilfe eine "tiefe Bruchlinie" des Christentums gegenüber "einer Indienstnahme für eine nationale Bevölkerungspolitik".




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